Charlotte

 Charlotte von Kirschbaum

[geb. 25. Juni 1899 in Ingolstadt – gest. 24. Juli 1975 in Riehen bei Basel]

 

Charlotte, 30 jährig

 

Gertrud Staewen, eine Freundin aus Berlin:

So sehe ich sie vor mir, wie sie in jenen ersten Jahren, als ich sie
kennenlernte – es muß so um 1928 herum gewesen sein -, in meiner  Erinnerung lebt: in wehenden hellblauseidenen Kleidern, zu ihren  herrlichen blauen Augen passend, zart, feingliedrig, aber von einer  funkelnden geballten Energie besessen, die nie laut, aber immer präsent  war.“

(Quelle: Ich bin was ich bin, Frauen neben großen Theologen und Religionsphilosophen des  20. Jahrhunderts, Herausgegeben von Esther Röhr, Gütersloher Verlagshaus, Gütersloh 1997)

Einige Angaben aus ihrem Leben

Charlotte von Kirschbaum kam am 25. Juni 1899 in Ingolstadt In Bayern zur   Welt, als einzige Tochter des Generals Maximilian von Kirschbaum und seiner Gattin, geborene Freiin von Brück. Da die oft kränkliche Mutter ihren beiden Söhnen sehr nahe stand, entwickelte sich ein besonderes Band zwischen Vater und Tochter, wobei der Vater die Begabung Charlottes früh erkannte. Während des Ersten Weltkrieges verdiente sich das junge Mädchen sein Taschengeld bei der Briefzensur. Die anschließende Hungerszeit aber führte zu einer ernsten Beeinträchtigung von Charlottes Gesundheit. Auch der jähe Tod ihres Vaters im Ersten Weltkrieg machte ihr schwer zu schaffen. Wohl nicht zuletzt unter dem Eindruck des Krieges entschied sie sich zu ihrer Ausbildung als Krankenschwester. Auf der Pflegerinnenschule in München wurde die Freundschaft mit Emmy Lentrodt geschlossen, mit der sie neben allem Menschlichen auch große theologische Interessen teilte,  bis eine Tuberkulose dem Leben der Freundin ein Ende setzte. Pfarrer Georg Merz in München entdeckte das wache Interesse der jungen Krankenschwester an Theologie und Gemeindearbeit, und er nahm sie 1925 zum ersten Mal mit zur Erholungaufs Bergli, wo sie in dem großen Freundeskreise des gastfreien Hauses von Ruedi und Gerti Pestalozzi auch Karl Barth kennenlernte. Die soziale Frauenschule, die Charlotte von Kirschbaum dann In München absolvierte, verließ sie mit hervorragenden Zeugnissen. Als die pflegerischen und sozialen Tätigkeiten später ein Ende nahmen, weil Charlotte sich mehr zur theologischen Arbeit heranbildete, konnte sie in Berlin eine sogenannte Begabtenprüfung ablegen, welche zum Studium an der Universität berechtigte. Die wichtigsten Begriffe des Lateinischen und Griechischen sich anzueignen, war kein Problem, und durch umfangreiche theologische Lektüre wurde sie zunehmend befähigt, die Arbeit Karl Barths zu verstehen  ja zu unterstützen. Da sie für Karl Barth mehr und mehr unentbehrlich wurde als Begleiterin seines Lebens und als Mitarbeiterin an seinem Werk, lebte unsere „Tante Lollo“ seit 1929 im Kreise unserer Familie. In der Monographie über Karl Barth von Professor Karl Kupisch wird die Tätigkeit der Verstorbenen wie folgt gewürdigt: „Als Barth den Plan zu seinem Lebenswerk fasste, das ohne eine sachkundige Hilfe gar nicht zu bewältigen war, war die auf eine solche Tätigkeit bereits vorbereitete Charlotte von Kirschbaum die wünschenswerte Kraft. Sie hat sich dieser Aufgabe über dreißig Jahre energisch und zielstrebig hingegeben, wusste mit fester Hand und zähem Eifer die Steuerung und Wegrichtung des wachsenden Riesenwerkes an der Seite des Meisters so kenntnisreich zu überwachen, dass Barth von ihrer in aller Stille geübten Arbeit rühmen konnte: Ohne ihre Mitwirkung könnte dieses Werk nicht Tag für Tag gefördert werden und wüsste ich nicht, wie ich mir die Zukunft, die es haben mag, vorstellen sollte.“
Während der Kriegs-  und Nachkriegsjahre spannen sich unzählige Fäden von Angefochtenen und Flüchtlingen aus den verschiedensten Ländern zu Karl Barth und seiner Mitarbeiterin, die sich mit Leidenschaft und Aufopferung tätig für diese Menschen einsetzte. Als Mitglied der Organisation „Freies Deutschland“ vermochte sie in der Stille viel Wertvolles zu leisten. Als Charlotte von Kirschbaum im Jahre 1949, anlässlich einer Konferenz in Frankreich, vier Referate Über das biblische Zeugnis der Frau zu halten hätte. konnte sie ihre eigene Forschung in der Bibel, in katholischer und existential philosophischer Frauenliteratur fruchtbar machen. Das Büchlein „Die wirkliche Frau“ ist der Ertrag ihrer eigenen Arbeit über die evangelische Lehre von der Frau. In der Tat hat sich Charlotte von Kirschbaum gegenüber vielen Studenten und politisch Verfolgten als „wirkliche Mutter“ erwiesen!
Im Jahre 1962 begannen sich Krankheitssymptome zu zeigen, die auf eine allzu frühe Form eines Gehirnschwundes hinwiesen, und so schied die aufopfernde Mitarbeiterin mehr und mehr aus, bevor das große Werk ganz zum Abschluss gekommen war. Vier Jahre später wurde unsere liebe Verstorbene zur Pflege In die Psychiatrische Klinik „Sonnenhalde“ in Riehen aufgenommen, wo sie bis zuletzt mit besonderer Hingabe und Gewissenhaftigkeit von Ärzten und Diakonissen betreut wurde. Dies erfüllt die Verwandten und Freunde mit großer Dankbarkeit.
Für die Patientin, die in den letzten Jahren gänzlich ans Bett gebunden war und geistig mehr und mehr abnahm, bedeutete das Hinscheiden am 24. Juli 1975 um 6 Uhr früh eine Erlösung,  wir aber verlieren einen der Familie und unzähligen Freunden nahestehenden Menschen, dessen Wesen und Wirken unvergessen bleiben wird.

Familie Barth Basel/CH

 

Predigt bei der Beerdigung Charlotte von Kirschbaum, am 28. Juli 1975

Friedhof am Hörnli, Basel

Helmut Gollwitzer

1. Thess. 5, 10:  „Unser Herr Jesus Christus ist gestorben für uns, damit, ob wir wachen oder schlafen, wir zusammen mit Ihm leben sollen.“

Jetzt ist sie unseren Blicken ganz entschwunden. Es war ein langes, langsames Weggehen, beginnend vor etwa zwölf Jahren, als wir merken mußten, daß sie nicht mehr ganz bei uns war und daß ihr leibliches Dasein immer weniger ihrem Geiste, diesem wachen, reichen Geiste, zur Verfügung stand, und dann die langen Jahre in der Pflegeanstalt, immer mehr Jahre des Schlafens, immer weiter sich entfernend, bis sie nun ganz von uns gegangen ist. In unseren Gesprächen, die ihr so oft gegolten haben, drückten wir häufig unsere Erschütterung, unsere Trauer, unser Mitleid mit ihrem Zustande aus; aber unsere Worte entsprachen oft nur wenig dem, was mit ihr geschah, waren vielleicht auch etwas egoistisch, weil wir gerne noch die Anregung ihres Geistes unter uns gehabt hätten, weil wir um unsertwillen sie in ihren früheren Zustand zurückwünschten; wir sahen nur die Entstellung und zu wenig, daß dies die Weise ihres Weggehens von uns, war. Wir sind kürzeres Weggehen gewohnt   so rasches und schmerzloses vielleicht, wie es Karl Barth geschenkt worden ist, oder auch längeres und schmerzhafteres, aber ungewohnt ist uns dieses langdauernde Sichentfernen, das für sie selbst doch, Gott sei Dank, weniger schmerzvoll war als für uns, die wir ihr nachtrauerten. Ihre Güte und Dankbarkeit wurde nun noch unverdeckter sichtbar als in den Zeiten ihres frischen Lebens, und wenn sie auf Gebete und Choräle halberwachend antwortete, dann konnte uns das ein Zeichen sein für die Wahrheit dieses Apostelwortes, das Ihr für die Nachricht von ihrem Heimgang gewählt habt, dafür nämlich, daß wir, ob wir wachen oder schlafen, mit Ihm zusammen leben dürfen. Dem, was dieses Zeichen und dieses Wort sagt, hat sie gedient, das hat sie erweckt in jungen Jahren, das hat sie mit uns vereinigt, und dem wollen wir, ihr nachblickend, nachdenken.

Ein Sterben ist geschehen, damit wir leben. Ein Tod hat Leben und Zukunft gezeugt. Von keinem anderen Tode können wir das sagen. Unser Leben kann, wenn es dazu gesegnet wird, dem Leben und der Zukunft anderer dienen, aber unser Sterben macht dem ein Ende. Aus unserem Leben erwächst Leben, aber vom Tode begrenzt. Aus dem Sterben unseres Herrn Jesus Christus erwächst Leben, vom Tode nicht begrenzt. Das war die Auferstehungserkenntnis, deren Erzählung durch Paulus in der Todeswelt von Thessalonich neues Leben entstehen ließ, neues Glauben, neue Fähigkeit zur Liebe und Gemeinschaft, neues Hoffen gegen alle Hoffnungslosigkeit, damals und seither immer wieder und an vielen Orten bis zu uns, die wir jetzt hier versammelt sind. Wir haben ein herrliches, konzentriertes, aus Staunen kommendes und Staunen erregendes Nachdenken über diese Erzählung vom Tode unseres Herrn Jesus Christus, durch den wir leben sollen, miterleben und mitmachen dürfen in der durch die Namen von Karl Barth und Eduard Thurneysen gekennzeichneten theologischen Bewegung, in deren Geschichte auch der Name Charlotte von Kirschbaum eingezeichnet ist.

Daß aus diesem Tode Leben, und zwar Leben für uns alle, schlechthin für alle, hervorgehen soll, das ist einzigartiges und unausdenkbares Geheimnis  aber nicht eines, das uns denkfaul machen will. Zum wachen menschlichen Leben gehört das Denken; deshalb ist dieses Geheimnis eine Herausforderung an unser Denken. Es will auch denkend angebetet sein. Als Lollo bei Karl Barth auf ein Denken stieß, das ganz von diesem Geheimnis in Anspruch genommen war, da war sie gefesselt davon und wollte dabei sein und hat ihren wichtigen Beitrag geleistet zu einer Denkarbeit, die dem Leben erweckenden Weitererzählen dieses Sterbens unseres Herrn Jesus Christus dienen kann.

Ein Sterben ist geschehen, damit wir leben. Ein Sterben, ein grausam reales Sterben war nötig, damit wir leben. Viel tiefer sind wir in die Todeswelt verstrickt, als wir es ahnen. Ein Leben muß sich hingeben ins Sterben, das Leben aller Leben muß sich für uns opfern, damit wir aus der Todesverstrickung herauskommen, anfänglich wenigstens hier auf Erden und mit Hoffnung auf die ganze Freiheit, die noch vor uns liegt. Wie das neue Leben bei uns noch im Kampfe liegt mit der Todesverstrickung, das ist erfahren worden in dem Schicksal, das Lollo in den Kreis von Karl Barth geführt hat – Schicksal jetzt nicht im heidnischen, sondern im christlichen Verständnis dieses Wortes: eine Schickung, die von allen bestanden werden mußte, die von ihr betroffen waren – eine Schickung, in der Glück und Schmerz und Aufgaben, oft allzu schwere Aufgaben, zugeteilt wurden – eine Schickung, der keiner sich entziehen konnte und durfte, der in Verantwortung gehorsam zu sein jeder von Euch in seiner Weise versuchte und unter der es ohne gegenseitige Verletzung und Schuld nicht abging – Schuld, die uns alle erfahren ließ, daß das Leben aus dem Tode unseres Herrn Jesus Christus als Vergebung zu uns kommt. Unter der Vergebung für diese Schickung zu danken, das war Euch, den Nächstbeteiligten, zugemutet. Das habt Ihr auch immer wieder lernen dürfen, und auch diese letzten zehn Jahre, in denen Lollo zurücktreten mußte, waren eine Hilfe zu diesem Lernen.

Auch dies gehört in das Geheimnis des Wortes „Schlafen“  hinein, das der Apostel  hier mit großer Absicht gebraucht. Ganz einseitig vom Wachen hat er in den vorher gehenden Versen dieses Briefes gesprochen: „Ihr alle seid Söhne des Lichtes und Söhne  des Tages; wir gehören nicht der Nacht und der Finsternis. Darum laßt uns nicht schlafen  wie die andern, sondern wachen und nüchtern sein“ (V. 5 f.). Es ist mir unvergeßlich, wie Karl Barth mir nach einer Predigt, die ich im Basler Münster über diesen Abschnitt zu  halten hatte, sagte: „Das ist das erste, was wir von Paulus in diesem seinem frühesten Brief hören und unabgeschwächt festhalten müssen: Der Tag ist schon da! Von daher können wir leben und das sollen wir leben.“ Daß aus einer schläfrigen, ja schlafenden Christenheit eine wach und tätig ihrem Herrn zur Verfügung stehende Schar werde, dem hat er mit seiner theologischen Arbeit dienen wollen. Aber es gibt ein Schlafen, das nicht aus unserer Faulheit stammt, sondern das uns der Herr selber schickt, und auch dieses Schlafen als eine gnädige Schickung anzunehmen, wird uns möglich durch diese Zusage: auch im Schlafen dürfen wir mit Ihm zusammen leben. Er will nicht nur unsere Tätigkeit; auch unser Untätig-sein-Müssen dürfen wir Ihm „aufopfern“, wie unsere katholischen Mitchristen schön sagen; auch unser Schlafen ist Leben mit Ihm. Auch in diesem jahrelangen Schlafen lebte Lollo mit Ihm zusammen, und auch ihr und unser Todesschlaf ist Leben mit Ihm. „Sie ist nicht gestorben, sondern sie schläft“, sagt Jesus von der Tochter des Jairus gegen all unser Besserwissen: „Sie verlachten ihn, weil sie wußten, daß sie gestorben war“ (Luk. 8, 52 f.). Lollos jahrelanges Sterben, ihr schlafendes Sich-Entfernen von uns verliert alles Bedrückende, wenn wir aus ihm diese Botschaft hören: „Ob wir wachen oder schlafen, wir leben mit Ihm zusammen“, und wir werden das alle bestätigen,  wenn sich uns die Verheißung Seines Todes und Seiner Auferstehung im Schauen bestätigt: „Wenn ich aufwache, bin ich noch bei dir“ (Ps. 139, 18). Amen.

Gebet

Wir hören, daß du unser ganzes Leben und auch unser Sterben mit deinem Leben verbunden hast. Wir danken dir, daß wir darauf vertrauen dürfen auch bei den rätselvollsten Wegen unseres eigenen Lebens und des Lebens anderer Menschen. Beim Abschluß des irdischen Lebens unserer Schwester Charlotte von Kirschbaum danken wir dir, du Quelle des Lebens, dafür, daß du sie so reich ausgerüstet hast, daß du ihr das Ohr für deine frohe Botschaft geöffnet hast, daß du sie in deinen Dienst genommen hast. Wir bitten um deine Vergebung, durch dein Sterben uns zugewendet: Vergib ihr, was sie selbst dir im Lichte deines Tages gestehen wird an Versagen, Undank und Ungehorsaml

Wir danken dir für alles Gute, was aus dem Leben deiner Dienerin Charlotte von Kirschbaum in unser Leben gekommen ist, und bitten dich, gnädiger Richter unseres Lebens, du mögest auch uns vergeben, was wir ihr schuldig geblieben sind.

Unser Sterben ist durch dein Sterben verwandelt. Du, der du aus dem Tode ins Leben gedrungen bist und die Schlüssel des Lebens und des Todes in deiner Hand hältst, befiehlst uns, vorwärts zu schauen. So schauen wir auch bei diesem Abschied über das Grab hinaus vorwärts auf die Freiheit, in der wir das Zusammensein unseres Lebens mit deinem Leben ganz erkennen und dir dafür ohne Aufhören danken. Amen.